Mit dem Quatsch aufhören III: Parteien entscheiden in eigener Sache

Schlimm? 470000 entscheiden über die Koalition

Der Mitgliederentscheid wurde kritisiert, weil etwa 470000 SPD-Mitglieder über die große Koalition entscheiden. Die Kritik hat vor allem den Hintergrund, dass die relativ wenigen SPD-Mitglieder die Entscheidung der ca. 42 Millionen Wähler verzerren würden, was ich bereits in vorherigen Blogeinträgen diskutiert habe (hier und hier). Wie Politiker selber bereits angemerkt haben ist es darüber hinaus verwunderlich, wie gering die Wertschätzung für innerparteiliche Demokratie unter den Beobachtern ist. Natürlich ist die bisherige Praxis, nach der die Leitungsgremien einer Partei oder ein Parteitag über die Koalitionsmitgliedschaft entscheiden weniger demokratisch, weil weniger inklusiv, als ein SPD-Mitgliederentscheid. Die Leitungsgremien einer Partei sind zwar auch demokratisch legitimiert und insofern berechtigt, über die Koalitionsmitgliedschaft zu entscheiden. Aber für eine Partei ist der Eintritt in eine Koalition eine der bedeutendsten Entscheidungen. Warum also nicht die Mitglieder direkt einbinden anstatt sie nur indirekt über die gewählten Parteispitzen in die Entscheidung einzubringen?

Das Verfassungsgericht hat mit seiner Ablehnung eines Eilentscheides gegen den Mitgliederentscheid mittlerweile betont, was Vielen nicht klar (gewesen) zu sein scheint: Parteien sind Organisation, die für sich entscheiden, ob sie an der Regierung mitwirken wollen. Das ist keine staatsrechtliche Frage und das Grundgesetzt greift hier nicht. Dankenswerterweise hat das Verfassungsgericht auch mit dem dünnen Argument aufgeräumt, der Mitgliederentscheid stelle einen unzulässigen Eingriff in die grundgesetzliche Freiheit des Bundestagsabgeordneten dar. Parteien greifen mitnichten in den Wählerwillen oder die Volkssouveränität ein, weil die Wähler nur den Bundestag wählen, nicht aber die Regierung (s. mein vorheriger Eintrag). Letztlich ist hier das Verhältnis der party on the ground (Mitglieder), party in central office (Parteiführung) und party in office (Fraktion) berührt. Vom Buchstaben her gewährt das Grundgesetz den Mitgliedern der party in office volle Autonomie, aber faktisch wird der party in central office eingeräumt, die Freiräume der party in office, also der Abgeordneten einzuschränken.

Innerparteiliche Demokratie ist mühsam

Die Piratenpartei wurde vor kurzer Zeit noch dafür gefeiert, dass sie mehr Transparenz und Beteiligung anstrebte. Die SPD macht nun dasselbe in Bezug auf die Entscheidung über die Koalitionsmitgliedschaft und wird dafür scharf kritisiert. Der Mitgliederentscheid kommt dem Maß an innerparteilicher Demokratie sehr nahe, was eine Partei „offline“ umsetzen kann. Konvente und Regionalkonferenzen mögen nicht so sexy sein wie liquid democracy, aber Beteiligung bleibt Beteiligung. Partizipation dieser Art ist mühselig und langwierig und ob sie der SPD-Führung in den Verhandlungen einen strategischen Vorteil verschafft hat wird sich noch zeigen. Aber wem der SPD-Mitgliederentscheid zu anstrengend und langsam ist, dem scheint innerparteiliche Demokratie nicht viel Wert zu sein.

Schlimmer? 14-jährige entscheiden über die Koalition

Verfassungsrechtler haben den Mitgliederentscheid in Frage gestellt, weil in der SPD Mitglieder mitentscheiden dürfen, die bei der Bundestagswahl nicht wahlberechtigt sind. Die Bedenken sind falsch, weil sie erneut die Bundestagswahl mit einer innerparteilichen Entscheidung vermischen. Eine Partei geht als Organisation in die Koalition und alle Mitglieder der Organisation sollten an der Entscheidung über den Koalitionseintritt beteiligt sein. 14-jährige entscheiden daher nicht “über Deutschland“, sondern über die Partei, zu der sie gehören und deren Geschicke sie mitbestimmen wollen. Rein systematisch ist zudem nicht klar, wieso gerade bei dieser Entscheidung die nichtwahlberechtigten Mitglieder ausgeschlossen werden sollten. Die Mitglieder bestimmen z.B. auch die Kandidaten und Listen, die bei der Bundestagswahl zur Wahl stehen. Müsste man nichtwahlberechtigte Mitglieder dann nicht ebenfalls ausschließen? wirken über Parteitage z.B. inhaltlich an Entscheidungen mit, die sich auf die Abgeordneten auswirken. [Änderung am 10.12.2013 auf den Kommentar unten hin.] Die Verabsolutierung des Wählers in der Diskussion über den Mitgliederentscheid ist einfach irreführend und wird nicht der Rolle und Stellung gerecht, die Parteien in unserem politischen System haben.

About Ingo Rohlfing

I am a political scientist. My teaching and research covers social science methods with an emphasis on case studies, multi-method research, causation, and causal inference. I also became interested in matters of research transparency and credibility. ORCID: 0000-0001-8715-4771
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2 Responses to Mit dem Quatsch aufhören III: Parteien entscheiden in eigener Sache

  1. Sehr schöner Artikel, aber leider im letzten Absatz falsch. Bei Aufstellungsversammlungen sind tatsächlich nur wahlberechtigte Mitglieder zugelassen. Aber ansonsten: Weiter so.

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